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GEMÜSE OHNE REISEPASS

GEMÜSE OHNE REISEPASS

Wie das hotel post bezau dem wächter der komfortzone freigibt ein gastbeitrag von diamonde

Mit geschlossenen Augen konzentrieren sich alle meine Sinne auf das Schmecken. „Tomate“ brüllt mein Geschmackssinn das Kommando an mein Hirn, in einer mir unbekannten Lautstärke und Deutlichkeit. Denn diese Tomate ist keine gewöhnliche Tomate und doch ist sie offenbar die intensivste, die meine Zunge je zu spüren bekommen hat. So schmeckt das also, wenn ein Gemüse niemals einen LKW von innen zu sehen bekommen hat. Wenn es keine dreißig Stempel im imaginären Reisepass hat, sondern vom Bauern gepflegt, gehegt und geerntet wird. Bis es schließlich vom Koch zu diesen Köstlichkeiten befördert wird, die gerade meinen Gaumen so verwöhnen. Herrje, ich werde nie wieder eine Supermarkt-Tomate mögen können! Ich esse heute das Irma-Menü. Die Irma hat hier vor einem knappen Jahrhundert die Kutscher bekocht, wenn ihnen der Magen knurrte. Hat die kleine Susanne schon als Kind mit auf die Alp genommen um Arnika und andere Kräuter zu sammeln, aus denen sie später nur Gutes anrührten: Cremes etwa, was Feines zu essen und Schnaps. Ob von ihr auch die Idee für dieses unfassbare Rosmarin-Öl stammt, in das ich gerade genüsslich mein Brot tunke? Alleine dieses Öl schwallt eine Geschichte von Wäldern, Bäumen und Natur in meinen Mund, für die sogar mir die Worte fehlen … und für die ich jederzeit an diesen Ort zurückkehren würde!

Um mich herum höre ich leise Gespräche. Mütter und ihre erwachsenen Töchter, Freunde aller Lebensphasen, Alleinreisende … ob Yoga Retreat, Detox Retreat oder Irma-Menü, sie alle verbindet eins: Sie haben den Mut, sich ein paar Tage mit sich auseinander zu setzen. Sie geben sich die Chance, die Perspektive zu justieren oder gar zu verändern. Dem Wächter der Komfort-Zone ein paar Tage frei zu geben und ihn einzutauschen gegen das Team des Hotel Post Bezau, in dem jeder seinen Teil zur Ganzheitlichkeit beiträgt.

Der Koch Jan, dessen Schatzkammer ich eben besichtigen durfte während er mir erzählt hat, wie lange sie nach den Einmachgläsern in passender Größe hatten suchen müssen. Paul, der mir bei der Massage im Susanne Kaufmann Spa Übungen für später mit auf den Weg gab, statt nur kurzfristig die Blockaden im Läuferrücken zu lösen. Julia, die meine Einstellung zum Yoga nachhaltig verändern konnte. Es ist nicht mal neun und zu Hause hätte ich sicherlich das Gefühl, noch irgendetwas „erledigen“ zu müssen. Hier nicht – denn hier bin ich nur für mich. Und so falle ich eine knappe halbe Stunde später in einen tiefen Schlaf. Gut so, denn morgen wandere ich dem Sonnenaufgang entgegen!

Als ich um kurz nach fünf an der Teestation stehe, warm und regenfest eingepackt, schläft der Rest des Hauses scheinbar noch. Auch über der Rezeption liegt eine Wolke der Stille. Stephie, die Direktorin, hatte mir gestern erzählt, dass sie unnötige Präsenzen zu Gunsten der Arbeitszeiten beim großen Relaunch des Hauses angepasst haben. Mir wurde bewusst, wie schnell wir auch die kleinsten Bedürfnisse als selbstverständlich erfüllt hinnehmen ohne darüber nachzudenken, was der andere dafür hergeben muss und ob es das wirklich wert ist. Ich fühle, wie ich mich freue für die, die nun nicht nachts hier sitzen müssen. Und verstehe, dass ich in meiner Welt der Zeit der anderen mehr Wert beimessen möchte.

Vor der Tür sitzt mit einer Zeitung unser Wanderführer Pius. Zu uns gesellen sich eine Frau in meinem Alter, eine Mutter mit ihrer Tochter in den Mittzwanziger und ein Hund. Wir fahren ein Stück von Bezau nach Bizau und machen uns auf den Weg. Wanderstöcke, Regenjacken und völlige Dunkelheit zwischen den Bergen des Bregenzerwalds. Laufende Nasen, mit jeder Minute munterere Gespräche, nasse Gesichter … und viel frische Luft. Ich weiß nach dreißig Sekunden, dass das hier genau mein Ding ist.  Vier Menschen, vier Lebenssituationen. Pius, der zwanzig Jahre lang im Hotel Post Bezau gearbeitet hat und die Susanne schon als Kind kannte, bis er Wanderführer wurde. Und zwar einer, der jede Pflanze kennt. Julia, die mit ihrer sechsjährigen Tochter in Berlin lebt und hier eine Woche für sich und für den stressigen Berliner Alleinerziehenden-Alltag Kraft tankt. Monika, der jedes Mal ein besorgter, spitzer Schrei entfährt, wenn Tochter Anna nur in die Nähe des Abhangs kommt, was Anna beständig mit einem völlig entnervten Gesichtsausdruck kommentiert. Ich muss schmunzeln, denn ich bin auch eine Tochter. Im Gegensatz zu Anna habe ich inzwischen verstanden, dass die mütterliche Sorge so tief mit unseren Wurzeln vergraben ist, dass es rein gar nichts gibt, das wir tun können, um sie zu nehmen. Ich bin sicher, dass Anna das in ein paar Jahren auch erkennen wird. Währenddessen erzählt mir Julia vom Leben mit ihrer kleinen Tochter in Berlin und von der ständigen Angst, ihrer Rolle nicht gerecht zu werden. Je näher wir dem Gipfel kommen, desto heller wird es. Nicht nur das Tageslicht, auch das Wetter klart auf. Begeisterung und Herzrasen erfüllt uns, als wir das kleine Kreuz erreichen. Wir packen unsere Tees aus … und Pius? Seine Liedtexte. Ich gebe zu, eine ganz kleine Sekunde lang dachte meine innere Seriosität „Nee, wirklich jetzt?“ So sehr mir der Gesang zu allen möglichen Zeitpunkten in meiner rheinischen Kultur in die Wiege gelegt sein mag, mit eigentlich fremden Menschen auf einem Gipfel „Danke für diesen guten Morgen“ zu singen ist mir dann doch suspekt. Doch dann schicke ich mutig den Wächter meiner Komfortzone über alle Berge. Und als wir alle vier samt Hund anstimmen, habe ich die Gänsehaut des Jahrhunderts. Und fühle tief in meinem Herzen, wie verbunden all unsere Leben tatsächlich miteinander sind.

Zurück im Hotel wartet Stephie gewohnt strahlend auf uns mit einem heißen Tee und ich schwebe Richtung Sauna. Um zehn habe ich eine Verabredung mit Nadine, sie will mir den Teil des Hotels zeigen, den ich noch nicht gesehen habe.

Tief entspannt treffe ich nach Sonnenaufgang, Sauna und einem guten Frühstück auf meine Verabredung. Nadine ist die Direktionsassistentin und kennt unzählige Geschichten über die Vergangenheit, den Wandel und die Gegenwart. Ich spüre in jedem ihrer Buchstaben, wie sehr sie sich identifiziert mit dem Mut der Veränderung. Sie erzählt mir vom zweiten Mülleimer der Suiten, den sie entfernt haben. 58 gesparte Plastiktüten am Tag mal 353 Tage, macht 20.474 Plastiktüten im Jahr. Warum 353 Tage statt 365? Weil das Hotel Post Bezau über Weihnachten schließt, auch Mitarbeiter haben Familie. Mülleimer für größere Abfälle gibt es übrigens auf den Fluren, „in schön“ und für Mülltrennung. Das Hotel Post Bezau kommt im Allgemeinen nahezu ohne Plastik aus.

Nadine erzählt mir, dass Architekturstudenten häufig vorbeischauen, weil der Anbau aus dem Jahr 1998 sowie die Tennishalle eher so aussehen, als wären sie 2012 entstanden. Dass das der Verdienst der Männer der Familie Kaufmann ist, die alle talentierte Architekten waren, war mir schon im Spa aufgefallen, der sich jedem Gast des Post Bezau von selbst empfiehlt.

Ich jedenfalls habe schon längst verstanden, warum er kürzlich den „World Class Spa Award“ gewonnen hat. Aber zur Sicherheit … lege ich noch einmal eine längere Pause dort ein, bevor ich mich mit Nadine auf einen Besuch bei Ingo Metzler am späten Nachmittag verständige.

Während ich so im Außenpool die Bregenzerwälder Luft einatme, erinnere ich mich an das, was Stephie uns damals in Stuttgart erzählt hatte: Ingo Metzler ist jener Landwirt, der seit vielen Jahren die Naturkosmetik von Susanne Kaufmann produziert. Dieser Besuch ist mir ganz besonders wichtig, denn die Entstehungsgeschichte der Kosmetikmarke Susanne Kaufmann hat gewissermaßen den Grundstein gelegt für die neue Entwicklung des Hotels. Susanne brauchte Molke für ihre Kosmetik. Ingo hatte viel zu viel davon, mindestens sechzig Prozent der Molke gelten als Abfall in der Landwirtschaft. Und so starteten die zwei die Produktion der Susanne Kaufmann Kosmetik. Das ist zwanzig Jahre her. Weit in die Welt hinaus getragen wurde die Kosmetik, Bestellungen aus aller Welt kamen. Und immer wieder die Frage „Wo eigentlich kommt Susanne Kaufmann her?“ Parallel versuchte Susanne, im Hotel allen Bedürfnissen zugleich gerecht zu werden. Bis sie eines Tages sagte „Was machen wir hier eigentlich?“ Und sich daran erinnerte, dass der Ursprung den Grundstein legt.

Im Mai 2019 vollzog sie mit ihrer Vertrauten Stephanie Rist einen mutigen Wandel: Fokussierung statt „Everybodys Darling“. Yoga- statt Konferenzräume. Samina Schlafkonzept statt Butler-Service. Eigene Agrarwirtschaft statt Einkauf im internationalen Handel. Gutes Essen statt Buffet im Überfluss, saisonal und regional. Respektvolle Arbeitszeiten für Mitarbeiter statt 24/7. Durchdachte und personalisierte Retreat-Programme statt Spa-Menü. In Einheit mit der Natur-Kosmetik schließt das Hotel Post Bezau einen Kreis zwischen außen und innen, zwischen Körper und Seele. Eine Verbindung, die uns abhandengekommen war. „Und die doch eigentlich so nahe liegt“, schließe ich meine Gedanken nach einem letzten Saunagang und bin gespannt auf den bedeutungsvollen Ort für unseren Nachmittagstermin. Der übrigens – wie alle Programmpunkte meiner Reise – für alle Hotelgäste angeboten wird, die so neugierig sind wie ich.

Eine Stunde später stehen wir mit einer kleinen Gruppe einige Kilometer weiter gemeinsam in der gemütlichsten Produktionsstätte, die ich je gesehen habe. Kühe, österreichische Idylle, freudig grüßende Damen, ein Hochregal aus Vollholz, die Glas-Fläschchen von Susanne Kaufmann … und Ingo Metzler, der inmitten dieser internationalen Produktion kein Stück seiner Authentizität eines österreichischen Landwirts verloren hat.  Nadine hat hier einen Lieblingsort. Gleich oben neben dem Balkon am Vollholzhochregal öffnet sie die Tür und wir treten hinaus auf das Dach. „Hört ihr das? Ich finde es auch nach all den Jahren hier immer noch unbegreiflich, dass hier unter uns Hunderte von Aufträgen produziert werden, während wir hier oben nichts hören als das Rauschen des Bregenzerwaldes.“ Ich fühle genau wie sie die Besonderheit dieser Situation. Erst recht als mein Blick auf den Streichelzoo im Garten fällt.

„Wir müssen los“, sagt Nadine, „um 17.00 Uhr ist hier Schluss. Die Kollegen unten wollen ja auch mal nach Hause zu ihren Familien. Wir produzieren hier nur unter der Woche zu sozialen Arbeitszeiten. Nur Ingo, der muss natürlich auch am Wochenende arbeiten“. Eine Dame merkt kritisch an, dass sich das Konzept dann wohl doch nicht so für alle umsetzen ließe. Nadine überlegt kurz und sagt dann: „Es gibt Dinge, die an einem Sonntag wichtig sind. Dass die Tiere versorgt werden. Dass Menschen versorgt werden, die sich nicht um sich alleine kümmern können. Aber vielleicht sollten wir uns bewusst machen, was wirklich nicht warten kann. Und die Produktion einer Kosmetik, die hat ganz bestimmt Zeit bis am Montag“.

Und damit ist alles gesagt.

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